In der Vielfalt sich mit einer Stimme engagieren
Die aktuelle Flüchtlingskrise ist nach Ansicht der Wiener Pastoraltheologin Regina Polak auch eine Chance die eigenen Wertevorstellungen zu überprüfen. "Wir reden immer groß von den europäischen Werten, die die Flüchtlinge annehmen müssen, dabei geht eine kritische Selbstbetrachtung aber komplett verloren", kritisierte sie am 21. November 2015 bei einem Symposion im WienerOtto-Mauer-Zentrum. Unter dem Motto "Vielfalt hat Zukunft" beleuchteten Experten aus Wirtschaft, Politik und Religionen dabei im Rahmen der zweitägigen Herbsttagung des Katholischen Akademikerverbands Österreichs (KAVÖ) im Schatten des Terrors von Paris zahlreiche Fragen rund um Europa und dessen Zukunft als "Projekt einer demokratisch getragenen versöhnten Verschiedenheit".
Familie und Demokratie als stabile Werte
Polak warnte dabei auch vor einer Vereinnahmung von Werten durch die Politik. "Es ist naiv zu glauben, Werte am grünen Tisch bestimmen oder verordnen zu können", äußerte sich die an der Universität Wien lehrende Theologin in ihrem Referat unter dem Titel "Wertegemeinschaft Europa?" kritisch zur jüngsten Debatte zu verpflichtenden Werteschulungen für Flüchtlinge. Werte würden auch in der Zukunft Europas eine gewichtige Rolle spielen, jedoch nicht anhand einer "Wertefibel", die genau die "europäischen Werte" definiere.
Stabile starke Werte in Westeuropa sind aus Polaks Sicht Demokratie und Familie. Religion sei in manchen Ländern noch hoch im Kurs, aber kein gemeinsamer europäischer Wert mehr, skizzierte sie die Wertelandschaft. Für die Österreicher belegten die Daten der Europäischen Wertestudie eine große Angst gegenüber allem Fremden. Subjektive Erfahrungen spielten beim Thema Werte eine entscheidende Rolle, führte die Forscherin aus. In der aktuellen Lage wären daher Impulse für versöhnliche Begegnungen mit Fremden von großer Wichtigkeit.
"Schleichende europäische Desintegration"-"Versöhnte Verschiedenheit"
Der Leiter des privaten Hochschullehrgangs für islamische religionspädagogische Weiterbildung, Mohamed Bassam Kabbani, nannte die mit dem Tagungsthema aufgegriffene "versöhnte Verschiedenheit" in Bezug auf die Beziehung zwischen Christen und Muslimen in Europa als wünschenswertes Ziel. Diese brauche es sowohl innerhalb der EU-Länder und Europas, als auch mit den muslimischen Minderheiten und den muslimischen Ländern. Die muslimischen MitbürgerInnen in Europa könnten dafür „Brückenbauer zwischen zwei Welten" sein, soKabbani. Daher sei dem „Extremismus in all seinen Formen eine Absage zu erteilen". Nach Anschlägen wie jenen in Paris würden die Muslime allerdings stets "unter Generalverdacht gestellt", bedauerte er. Es sei „Mehrheitsmeinung der Muslime, es gibt keinen Zwang in der Religion. Weder die Muslime wollen Europa islamisieren, noch wollen sie sich europäisieren lassen",schloss Kabbani.
Foto: Der Hochschullehrgangleiter Mahamed, Bassam Kabbani
nannte „versöhnte Verschiedenheit“ als Ziel.
Der Ökonom Stephan Schulmeister nahm zu den wirtschaftlichen Brennpunkten in der Europadebatte Stellungundortet eine "schleichende europäische Desintegration", die sich in den vergangenen zehn Jahren immer stärker ausgebreitet habe. "Der Neoliberalismus, der die Macht des Marktes über alles andere stellt, ist der größte Feind der Aufklärung", soSchulmeister. Gehorche man weiter "blind" dem neoliberalen Modell, stelle man auch die europäischen Werte in Frage.
Vielfalt –Homogenisierung –gläserner Vorhang
Der Bevölkerungswissenschaftler Rainer Münzwies darauf hin, die erste Europäische Einigungsbewegung erfolgte durchdas Römische Reich mit einem gemeinsamen Recht, Währung, Militärorganisation und Infrastruktur.Gleichzeitig gab es damals eine Vielfalt der Religionen und Sprachen. Mit der Durchsetzung des Christentums erfolgte eine Homogenisierung der Gesellschaft.
Nach der durch die Reformation erzeugten Vielfalt kam es im 17. Jahrhundert zu einer religiösen Homogenisierung auf regionaler Ebene (Cuius regio, eius religio) und im 18. Und 19. Jahrhundert zur Gründung der Nationalstaaten. Während Europa sich als Auswanderungsgesellschaft verstehe, dass sich auf seine Sesshaftigkeit berufe, berufe sich eine Einwanderungsgesellschaft darauf, „dass die die da sind Erfolg hatten", sagteMünz. Auch gebe es eine „völlig fehlende Erfahrung mit Diversität.Vielfältige Gesellschaften können mit externen Schockes besser umgehen", so Münz.
Die weiterhin bestehenden Mentalitätsgrenzen nach dem Fall des Eisernen Vorhangs hinterfragte schließlich der Theologe und Publizist Cornelius Hell. Europa sei ein Vierteljahrhundert nach 1989 noch immer durch einen "gläsernen Vorhang" geteilt. Dieser sei zwar grundsätzlich transparent, aber dennoch eine "unsichtbare Barriere". Hell warnte vor diesem Hintergrund vor einem "Gleichmachen" der ost-und westeuropäischen Staaten. "In Osteuropa werden Dinge, insbesondere aufgrund der vollkommen unterschiedlichen Geschichte, oftmals ganz anders interpretiert als im Westen", hob er hervor. Hier fehle vielen westlichen Beobachtern ein Gespür und der Wille diese Unterschiede zu erkennen und zu respektieren.
Kuhn: EU vor "Zerreißprobe" –Rohrer: „Die Verantwortung liegt bei jedem von uns"
Für den Europareferenten der Österreichischen Bischofskonferenz, Michael Kuhn, ist die Europäische Union in näherer Zukunft mit drei großen Problemenkonfrontiert: "Derzeit sind vor allem die Attentate von Paris medial präsent, aber auch die Flüchtlingsproblematik und nicht zuletzt die Griechenlandkrise stellen die EU vor eine Zerreißprobe", sagte er in der abschließenden Podiumsdiskussion über Zukunftsszenarien. Kuhn leitet das Vertretungsbüro der Bischofskonferenz in Brüssel und wohnt selbst nicht weit vom Brüsseler Stadtteil Molenbeek entfernt, aus dem vier der Attentäter von Paris stammten. In Molenbeek herrsche über 40 Prozent Jugendarbeitslosigkeit und die belgische Gesellschaft schaffe es nicht diesen Menschen Bildung und Arbeit zu ermöglichen, schilderte er.Der Europa-Experte ortet beim Umgang mit den Geflüchteten, die aktuell in Europa ankommen, zu wenig Lösungskompetenz in der Politik. "Die Zivilbevölkerung und auch die Kirchen setzen sich verstärkt für Flüchtlinge ein, in der Politik brauchen wir diesbezüglich eine
neue Mentalität", so Kuhn.
„Die Verantwortung liegt bei jedem von uns“, sah die Journalistin Anneliese Rohrer als Zukunftsszenario in der Podiumsgespräch mit dem Referenten der österr. Bischofskonferenz für Europäische Angelegenheiten, Michael Kuhn (rechts) und dem Projektmanager der ERSTE Stiftung Filip Radunovic (links).
Auch derProjektmanager der ERSTE Stiftung,Filip Radunovic, konstatierte eine „Mut-und Visionslosigkeit der Politik". Er hob den Wert der Mobilität hervor, sah „eine Managementkrise der kulturellen und religiösen Ressourcen"undfragte nach der „Rolle des Staates". Für dieJournalistin Anneliese Rohrer „fehlen gegenwärtig Persönlichkeiten". Sie sagte: „Wir haben die Unfähigkeit der Politiker herbeigeschrieben, die das jetzt „handeln"sollen.Die Verantwortung liegt bei jedem von uns, weil die Politiker wissen was sie uns nicht zumuten können". Da die EU „als Wohlstandsgemeinschaft gesehen" werde, nutze es„sehr wohl was, wenn die Zivilgesellschaft eine Stimme findet und sich engagiert", so Rohrer.
Lendvai: Nationalismus gefährdet Europa
Schon zum Auftakt der Herbsttagung hatte der Publizist Paul Lendvai am Vortag im Wiener "Haus der EU" eine "tiefe" Spaltung Europas beklagt und vor dem möglichen Zerfall der Europäischen Union durch das Wiedererstarken des Nationalismus gewarnt. Auch infolge der akuten Krisensituationen im Nahen und Mittleren Osten würden die zentrifugalen Kräfte nicht nur nicht eingedämmt, sondern verstärkt, sagte Lendvai. "Es herrscht Ratlosigkeit, und die Gefahr der Renationalisierung wird von Tag zu Tag größer." Europaparlaments-Vizepräsidentin Ulrike Lunacek verwies dazu beispielhaft auf die Flüchtlingskrise. Diese sei eigentlich "eineKrise der Solidarität und des mangelnden politischen Willens".
KAP, Franz Vock
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