Eine Stimme für arbeitslose Menschen
Die Corona-Krise hat die Situation auch auf dem Arbeitsmarkt verschlimmert. Wie sehen Sie die Lage?
Karl A. Immervoll: Als im März 2020 der erste Lockdown erfolgte, war die Situation auf dem Arbeitsmarkt dramatisch. Innerhalb einer Woche schnellten die Zahlen in die Höhe. Viele Firmen waren versucht, ihr Personal abzubauen. Gemeinsam mit der Gewerkschaft kontaktierten wir seitens der Betriebsseelsorge Betriebsräte und kleinere Betriebe, um sie von der Kurzarbeit zu überzeugen. Denn das bewahrt einerseits vor Arbeitslosigkeit und die Beschäftigten bleiben erhalten. Als Service für das AMS richteten wir eine Hotline ein, denn die Mitarbeiter/innen hatten keine Zeit mehr für Gespräche.
Wie schaut die Situation heute aus?
Immervoll: Zwar geht die Arbeitslosigkeit leicht zurück, doch die Angst vor der Zukunft besteht weiter, vor allem was die Zeit nach der Kurzarbeit betrifft. Werden die Betriebe ihren Personalstand halten können? Gleichzeitig sehen wir, dass ganze Familien von Armut bedroht sind. Selbst Leute, die sich das nie vorstellen konnten, suchen um Beihilfen an. Die Zahl der Kunden in den Sozialmärkten steigt und Sozialarbeiter/innen beklagen, nicht zu wissen, wie sie Familien in ihrer finanziellen Not helfen können. Die Pandemie wirkt wie ein Brennglas auf die bisherigen Schwächen der Gesellschaft: Aus Rissen werden Spalten!
Wie wichtig ist gerade heuer der Tag der Arbeitslosen?
Immervoll: Schon der Sozialhirtenbrief der österreichischen Bischöfe aus dem Jahr 1990 bezeichnete die „Arbeitslosigkeit als Geißel der modernen Menschheit“. Auch Papst Franziskus wird nicht müde, auf dieses Unrecht hinzuweisen. Angesichts der hohen Zahlen dürfen wir uns nicht an Arbeitslosigkeit gewöhnen. Es ist ein gesellschaftliches Problem, das wir haben. Schuldzuschreibungen sind hier nicht angebracht. Der Schöpfungsbericht in der Bibel verpflichtet uns, die Welt zu gestalten. Und wir dürfen schon aus diesem Grund nicht zulassen, dass Menschen von der Beteiligung am gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen sind.
Der Stellenwert der Arbeit in der Gesellschaft ist ein hoher und viele (Langzeit)-Arbeitslose leiden unter ihrer Situation.
Immervoll: Johannes Paul II. sagt in seiner Enzyklika über die Arbeit: „Die Arbeit ist der Dreh- und Angelpunkt der sozialen Frage.“ Je länger jemand von Arbeitslosigkeit betroffen ist, umso mehr sinkt das Selbstvertrauen. Gehen die erten Bewerbungen schief, dann wird bald an sich selbst gezweifelt. Schon nach kurzer Zeit geht sowohl fachlich als auch sozial der Anschluss verloren. Dazu kommen gesundheitliche Probleme. An diesen Menschen hat die Wirtschaft kaum mehr Interesse, sie werden zur Belastung. Daher sind sie hinter den Zahlen nicht sichtbar. Tatsächlich wächst derzeit die Zahl der von Langzeitarbeitslosigkeit betroffenen Menschen. Schließlich betrifft Corona vermehrt auch die Jungen, die Lehrlinge. In Gastgewerbe und Handel ist die Ausbildung aufgrund der Schließungen fast nicht möglich, vor allem kleinere Betriebe kämpfen um ihr Überleben und sind mit Lehrverträgen zurückhaltend.
Was sagen Sie einem Arbeitslosen, der sagt: „Das Schlimmste an der Arbeitslosigkeit ist, dass ich meine Würde verloren habe. Ohne Arbeit bist du nichts wert ...“?
Immervoll: Zunächst sage ich gar nichts, sondern höre zu. Diesen Menschen fehlt durch den Verlust des Arbeitsplatzes Anerkennung und die kann ich geben, indem ich ihre Geschichten höre und daran teilnehme. Kardinal Joseph Cardijn hatte oftmals zu Arbeiter/innenjugendlichen gesagt, sie seien „mehr wert als alles Gold der Erde“! Und darum geht es: Den betroffenen Jugendlichen, Frauen und Männern Zuspruch zu geben, denn jeder Mensch hat einmalige Fähigkeiten und ist wertvoll für unsere Gemeinschaft. Erst dann kann ich schauen, was es braucht, um Erwerbsarbeit zu finden, sich um die Gesundheit zu sorgen oder umzuorientieren – möglicherweise sogar ohne Arbeitsplatz.
Welche Rolle kann die katholische Kirche für Arbeitslose einnehmen?
Immervoll: Die Kirche hat da eine ganz besondere Aufgabe. Ich verweise wieder auf den Sozialhirtenbrief: „Wir Bischöfe fühlen uns verpflichtet, eindringlich unsere Stimme zu erheben, weil wir den Eindruck haben, als hätte man sich mit einer bestimmten Arbeitslosenrate bereits abgefunden … Wir dürfen Arbeitslosigkeit nicht einfach als gegeben hinnehmen und unser Vertrauen allein auf den Marktmechanismus setzen.“ Gerade mit Einrichtungen wie Betriebsseelsorge und KAB ist die Kirche diesen Menschen nahe, aber auch mit anderen Organisationen. Es ist Tradition der Kirche – wieder zitiere ich den Sozialhirtenbrief – , auf Seite der Schwächeren der Gesellschaft zu stehen.
Wo sehen Sie Lösungen? Sie haben im Waldviertel ein praktisches Experiment mit dem bedingungslosen Grundeinkommen durchgeführt? Wie war das?
Immervoll: Wir hatten über 20 Monate für 44 von oft jahrelanger Arbeitslosigkeit betroffene Menschen unterschiedlichen Alters und Bildung eine Art Grundeinkommensprojekt laufen. Es hatte den Titel „Sinnvoll tätig Sein“. Wir konnten zeigen, dass – wenn der Druck seitens AMS und Bewerbungen von ihnen genommen wird – Menschen im Sinne ihre Fähigkeiten tätig werden und dies in die Gemeinschaft einbringen. Niemand lag in der so oft beschworenen sozialen Hängematte und wir hatten zudem eine (nicht beabsichtigte) hohe Vermittlungsrate. Wir haben unsere Erfahrungen ausführlich in einem Buch beschrieben.
Sehen Sie im bedingungslosen Grundeinkommen einen wichtigen Schritt für arbeitslose Menschen?
Immervoll: Gerade in einem mehrheitlich reichen Umfeld bestimmen finanzielle Sorgen ganz wesentlich den Alltag. Es ist ein Überlebenskampf und Menschen werden zu Bittstellern. Sie fühlen sich als Menschen zweiter Klasse. Daher brauchen wir ein „bedingungsloses Grundeinkommen“ um diesen Personen die Chance auf mehr Freiheit und ein Leben in Würde zu geben. Ein reiches Land wie Österreich kann sich das auch leisten.
Buchtipp: Dimmel/Immervoll/Schandl (Hrsg), „Sinnvoll tätig sein – Wirkungen eines Bedingungslosen Grundeinkommens; erschienen im ÖGB-Verlag.