Wie kann das negative Stereotyp „des Islam“ langfristig abgebaut werden?
Das neue Jahr startete in Österreich politisch turbulent und ereignisreich. Unter den Ereignissen sticht eines hervor – gerade, weil es zunächst unbemerkt blieb: Nämlich die Aussage der niederösterreichischen Landeshauptfrau am 6. Jänner 2025 im ORF-Interview. Eine neue Regierung stünde vor der Herausforderung, „ganz konkrete Maßnahmen zu setzen für den wirtschaftlichen Aufschwung als auch im Kampf gegen den Islam.“
Zu diesem Moment gehört, dass die Aussage einer der mächtigsten RepräsentantInnen der ÖVP im ORF-Livestudio völlig unkommentiert blieb – als wäre es das Selbstverständlichste der Welt: Die neue Regierung steht vor zwei zentralen Herausforderungen, die Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen – und den Islam mit „ganz konkreten Maßnahmen“ zu bekämpfen.
In diesem Moment wurde plötzlich ein Vorhang einen Spalt breit geöffnet – und schmerzhaft grell offenbarte sich etwas. Wie Michel Serres sagt, ist Zeit nicht linear, sondern chaotisch: Manchmal berühren sich in einer Faltung der Zeit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. In diesem Moment überblendeten sich die antisemitischen populistischen Reden des christlich-sozialen Politikers Karl Lueger, der ab den 1880er Jahren mit Antisemitismus politisch mobilisierte, und der „Kampf gegen den Islam“ als Dimensionen der möglichen Zukunft einer „Dritten Republik“ unter einem „Volkskanzler“.
Lueger hatte vor über 100 Jahren, nach seiner Wende zu einer Politik mit dem Antisemitismus, das „Volk“ als „christlich und deutsch“ definiert und damit alle ethnisch und religiös Anderen ausgeschlossen. Er repräsentiert damit einen „reaktionären Populismus“ (Margaret Canovan), der auf Vorurteilen, Stereotypen und Ausgrenzung von gesellschaftlichen Minderheiten basiert. Damals ging es um TschechInnen und JüdInnen, heute primär um die Bürgerinnen und Bürger muslimischer Zugehörigkeit.
Das Alarmierende ist die scheinbare Selbstverständlichkeit dieses gewaltvollen sprachlichen Akts „Kampf gegen den Islam“. Im ORF-Studio fühlte sich niemand bemüßigt, auf diese Äußerung einzugehen.
Machen wir uns nichts vor: Für viele Menschen ist es mittlerweile tatsächlich selbstverständlich geworden, dass „der Islam“ bekämpft werden muss. Spätestens seit 9/11 hat er den Kommunismus als Hauptfeind des Westens abgelöst. „Der Islam“ ist im kollektiven Gedächtnis Europas seit der osmanischen Expansion im Mittelalter und in der Neuzeit als Erzfeind verankert. Gerade in Österreich ist das „Türkengedächtnis“ – die Erinnerung an die „Türkenkriege“ und die Belagerung Wiens 1529 und 1683 – ein zentrales Element der nationalen Identität.
Die Erinnerung daran wird im öffentlichen Raum der Städte und Dörfer (gerade in Niederösterreich und Wien) durch zahlreiche Bilder, Statuen und Inschriften wachgehalten. Diese historische Tiefendimension von Jahrhunderten der Islamfeindschaft und Islamangst in Europa macht die Wucht des heutigen antimuslimischen Rassismus aus, und macht ihn derartig brandgefährlich, wenn er von Parteien politisch instrumentalisiert wird.
Der Terror der al-Qaida, der Aufstieg des IS, die Welle djihadistischer Angriffe in europäischen Städten vor allem ab 2013 bestätigte für viele das Stereotyp dieser Weltreligion als bedrohlich, gewalttätig und fanatisch. Eine Differenzierung zwischen dem Mainstream des Islam und djihadistischen Organisationen hat schlechte Karten gegenüber dem Sog des vereinfachenden, essentialistischen Pauschalverdachts gegenüber dem Islam. Rechtspopulistische und rechtsextreme politische Parteien und Bewegungen nutzen und verstärken ihn seit Jahrzehnten strategisch, um damit politisch zu mobilisieren.
Gegen die pauschale Verurteilung „des Islam“ hat Papst Franziskus seit Beginn seines Pontifikats im März 2013 das Gewicht seines Amtes in die Waagschale geworfen. Der Papst trat sein Amt inmitten der globalen politischen Krise durch den neo-salafistischen Djihadismus und die dadurch ausgelösten massiven Spannungen in den christlich-muslimischen Beziehungen an. In seinem ersten Apostolischen Schreiben „Evangelii Gaudium“ von November 2013 hielt er fest: „Der wahre Islam und eine angemessene Interpretation des Korans stehen jeder Gewalt entgegen“ (Nr. 253).
Gerade in wirtschaftlich schwierigen Zeiten bildet es für politische Parteien eine starke Verführung, statt einer sachlichen Lösung der strukturellen ökonomischen und sozialen Probleme (u.a. der wachsenden sozialen Ungleichheit) mit Diskriminierung und Ausgrenzung von Minderheiten davon abzulenken, Stimmung und Politik zu machen.
Der bedeutende Soziologe Ulrich Beck wies vor Jahren darauf hin, dass gerade in Krisenzeiten gerne auf die „alten Sündenböcke“ – Juden, Muslime, … - zurückgegriffen würde. In den Krisenjahren der 1930er, beim Aufstieg der Rechtsextremen ging die giftige Saat der Jahrhunderte des christlichen Antijudaismus und des modernen Antisemitismus von Lueger und anderen auf. Wir wissen, in welcher Menschheitskatastrophe diese Saat endete.
Eine Wählermobilisierung auf dem Rücken der Muslime ist nicht der FPÖ vorbehalten. Bereits Kurz setzte im Wahlkampf 2015, der die ÖVP zur stimmenstärksten Partei und ihn zum Kanzler machte, massiv auf die Islam-Karte, u.a. in Form der Änderung des Islamgesetzes.
Nötig sind nüchterne Überlegungen: Wie kann die wehrhafte Demokratie effizient mit Gruppen im Spektrum des politischen Islamismus umgehen? Wie kann – u.a. durch Bildung und öffentliche Aufklärung, durch Dialog und Begegnungen - das negative Stereotyp „des Islam“ langfristig abgebaut werden? Eines sollte klar sein: Die zentrale Gefahr für die liberale Demokratie geht nicht von den neuen ÖsterreicherInnen muslimischer Zugehörigkeit aus, sondern von national-autoritären Kräften, die die Unsicherheit über die Veränderungen im Zuge einer größeren ethnisch-religiösen Vielfalt in Österreich und die Angst vor „dem Islam“ politisch bewirtschaften.
Ernst Fürlinger: habilitierter Religionswissenschaftler mit Schwerpunkt interreligiöser Dialog, Islam und Hinduismus; empirische Forschung zum Islam in Österreich; war Leiter der Lehrgänge „Neo-Salafistischer Djihadismus“, „Islam in Europa“ sowie „Interreligiöser Dialog: Begegnung von Juden, Christen und Muslimen“ an der Universität für Weiterbildung Krems.
Der Kommentar ist die persönliche Meinung der Autorin/des Autors und muss nicht mit der Meinung der Katholischen Aktion der Erzdiözese Wien übereinstimmen.