Bis vor einigen Jahren hatte ich noch ein ziemlich gefestigtes Weltbild. Ich war mir meiner privaten und gesellschaftlichen Einschätzungen ziemlich sicher und ich war mit meinem Familien- und Freundeskreis zumeist einer Meinung. Das hat sich spätestens mit dem Überfall durch die Corona-Pandemie massiv geändert.
Nicht, dass es nicht auch schon vorher Anzeichen dafür gegeben hätte, dass gesellschaftliche Einschätzungen auseinanderdriften, Gelegenheiten gab es auch gegen Ende des Jahrtausends schon genug. Im Jahr 1990 z.B. als alle begeistert den Zusammenbruch des Ostblocks feierten, hatte ich, trotz meiner Freudentränen über den Mauerfall, doch ein mulmiges Gefühl, angesichts des aufkeimenden Nationalismus und des angeblich alternativlosen Siegs des Kapitalismus, hielt mich mit dieser Meinung aber zurück, weil rundherum Euphorie herrschte.
Der Zerfall von Jugoslawien und der darauf folgende grauenhafte Bürgerkrieg zerstörten meine Überzeugung, dass es nach dem Gemetzel des 2. Weltkriegs in Europa keinen konventionellen Krieg mehr geben würde. Die darauf folgende Kriegseuphorie auch unserer unabhängigen Medien, mit der man den unnötig angezettelten Irakkrieg befeuerte, ließ mich ratlos zurück. Ahnte ich doch, ohne mir das Ausmaß vorstellen zu können, dass Elend, Flucht und Vertreibung die Folgen sein würden. Niemand von uns konnte sich ausmalen, dass als Antwort darauf, von Saudi-arabischen Terroristen gelenkte Flugzeuge die Twintowers zerstören und mehr als tausend Menschen in den Tod reißen würden.
Aber die Klammer der Grundüberzeugungen im Kreis der Freundinnen, der Arbeitskolleginnen und in der Familie hielt noch alles zusammen. Wir standen an der Seite der weltweit Benachteiligten und die waren ziemlich klar zu definieren. Das hat sich mit Corona massiv geändert.
Diese große Verunsicherung, mit einer Krankheit konfrontiert zu sein, die niemand kannte, an der viele Menschen starben, deren Ansteckungspotential nicht erforscht war, deren Vorbeugungsmaßnahmen umstritten waren, öffnete alle Schleusen. Die politisch Verantwortlichen hatten, durch diverse Skandale beschädigt, schon lange den Boden für weit verbreitetes Misstrauen bereitet. Das allein auf Gewinnmaximierung ausgerichtete Agieren der Pharmaindustrie stand auch vorher schon im Fokus der Kritik. Menschen, die mit dem neoliberalen Freiheitsbegriff aufgewachsen waren, der nur die individuelle Befreiung von einschränkenden Regeln gelten ließ, erwiesen sich vielfach als unfähig, Begrenzungen zu akzeptieren.
Das Gesundheitssystem offenbarte in der Krise eine durch Gesundheitsökonomen forcierte technokratische Fehlentwicklung – die Menschen standen schon lange nicht mehr im Mittelpunkt, weder die Kranken, noch das dort tätige Personal. Die Bürokratie war heillos überfordert. Wir waren alle auf uns und unsere Bewältigungsstrategien zurückgeworfen und die meisten in einer Überforderungssituation, die nach Sündenböcken suchte. Die Politiker hörten vor allem auf jene Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, die als Virologen nicht die Menschen, sondern die Eindämmung des Virus in den Mittelpunkt stellten.
Das war in den Zeiten der ersten totalen Verunsicherung berechtigt, dennoch war der Blick auf die Gesellschaft und vor allem die Kommunikation eingeschränkt. Erinnert sich noch jemand an den Babyelefanten? Wie blöd muss man sein, auch in einer solch ernsten Situation den Werbefuzzis das Terrain der Kommunikation zu überlassen? Es folgten völlig unbegründbare Schikanen, wie das Verbot des Besuchs von Parks und der Begegnung mit Menschen an der frischen Luft. Äußerungen, die davor warnten, dass wir alle mit dem Tod durch Corona konfrontiert sein werden, taten ein Übriges. Alte Menschen dämmerten allein gelassen in Pflegeheimen dahin, Kinder vereinsamten zu Hause.
Wissend, dass man damit die gesellschaftliche Kluft nur noch vergrößert, wurde dann auch noch aus der Ratlosigkeit heraus eine Impfpflicht eingeführt. Wir konnten auf die Pandemie nicht eingestellt sein, aber wenn die Verantwortlichen mehr Gespür dafür gehabt hätten, wie man verantwortungsvoll kommuniziert und was man Menschen zumuten kann, wäre die Gesellschaft nicht so weit auseinandergedriftet und wir wären gegenüber all dem, was noch kommen sollte, besser gewappnet gewesen. Eines aber zeigte die Pandemie ganz deutlich, wir sind eine Gesellschaft von Individuen geworden, mit wenig Gemeinschaftssinn, der zugunsten anderer auch verzichten kann, ausgestattet.
Damals begann es, dass wegen der unterschiedlichen Sicht auf die Pandemie, Familien und Freundeskreise zerbrachen. Es ist aber bis heute nicht zu Ende. Sowohl die Sicht auf den russischen Angriff auf die Ukraine, als auch der Terror in Israel und Palästina entzweien bis dahin homogene gesellschaftliche Biotope. Weder politische Verantwortung tragende noch die Medien sind zu ehrlicher Auseinandersetzung bereit. Sie überlassen die Unzufriedenen den menschenverachtenden Hetzern von rechts. Es wird weiterhin schwarz- weiß gemalt: hier die Guten – dort die Bösen. Menschen, die sich um Schattierungen bemühen, werden einerseits als Putinversteher und im anderen Fall als Antisemiten diskreditiert. Der Ton ist gehässig und verletzend geworden.
Frauen galten meist als diejenigen, die eher um Versöhnung bemüht sind – aber auch das hat sich tiefgreifend gewandelt. Für viele Feministinnen scheint nicht mehr die patriarchale Verfasstheit der Gesellschaft das Problem zu sein, sondern jene Frauen, die ihr Leben lang für Gleichberechtigung gekämpft haben. Denn sie verlagern das Problem der Ungleichheit in den Inner-Frauen-Bereich. Männer können sein und bleiben, was sie sind, aber Frauen müssen auf Grund der Diversität und Vielfältigkeit der Geschlechter Abstriche machen. Der Begriff Frau soll nur mehr in Form von „als Frau gelesene Personen“ verwendet werden.
Sie müssen sich den Problemen der unterschiedlichen Geschlechtsidentitäten (LGBTIA+) widmen und als weiße Feministinnen den People of Colour (PoC) wegen deren kolonialer Unterdrückung Abbitte leisten. Ihnen gegenüber haben wir vor allem wachsam (woke) zu sein. Da wird uns wieder etwas zugeschoben, was ein gesamtgesellschaftliches Problem ist – nämlich der Umgang mit Minderheiten und deren Rechten. Dass dieser Streit unter Frauen von reaktionären Parteien und Gruppierungen dazu benutzt wird, das Genderproblem lächerlich zu machen und Frauenrechte wieder in Frage zu stellen, scheint wenig zu interessieren.
Diese explosiv aufgeladene Gemengelage ergibt nun, dass Gruppen, die miteinander in vielem übereinstimmen, immer fragmentierter werden. Je mehr unterschiedliche „Wahrheiten“ es gibt und je mehr alle auf ihren je eigenen „Wahrheiten“ bestehen, desto geringer wird der gemeinsame Nenner für unser Zusammenleben.
Deshalb plädiere ich dafür, dass wir uns alle auf weniger sicheres Terrain begeben – ich wünsche mir mehr Wankelmut. Denn es ist mutig zuzugeben, bei vielen der Fragen, auf die uns die Zeit derzeit zumutet, keine Antwort zu haben und zu schwanken. Das bringt vielleicht ein bisschen Bewegung in die festgefahrenen Überzeugungen. Unsere Nervenkostüme sind seit der Corona-Krise dünn geworden, geben wir ihnen doch Zeit, sich ein wenig aufzupäppeln und üben wir uns in Gemeinsinn statt in Rechthaberei.
Der Kommentar ist die persönliche Meinung der Autorin/des Autors und muss nicht mit der Meinung der Katholischen Aktion der Erzdiözese Wien übereinstimmen.